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Johannes, Schuljahr in der Nähe von Vancouver, British Columbia

Mein Jahr in Kanada: nicht einmal 6500 Fotos können meine Erlebnisse ganz einfangen

Hi. Ich bin Johannes, 17 Jahre alt und bin in Norddeutschland Zuhause. Das stimmt zum Teil. Ich habe seit dem letzten Jahr nämlich das Gefühl, an zwei Orten Zuhause zu sein. Hier und in British Columbia an der kanadischen Westküste, wo ich letztes Jahr für 10 Monate mein Auslandsjahr gemacht habe.
Inzwischen bin ich seit einiger Zeit wieder in Deutschland, aber glaubt mir, wenn ich sage… nicht für lange. Ich gehe nämlich schon bei der nächsten Gelegenheit wieder meine zweite Heimat, meine Freunde und die Orte besuchen, wo nicht einmal Fotos die Erlebnisse einfangen können. Ich habe es versucht: mit 6500 Fotos auf der Speicherkarte kam ich zurück. Fotos von meinem Alltag, meinen Freunden, meinen Ausflügen und von allem, was mir irgendwie vor die Linse kam. Kurz: von meinem Leben in Kanada und genau von diesem Leben würde ich dir jetzt gerne erzählen – in stark gekürzter Fassung.

Nervosität beschreibt nicht mal ansatzweise das Gefühl, als ich in den Flieger Richtung Vancouver stieg. 10 Monate. Ich würde 10 Monate woanders leben, eine andere Sprache sprechen und neue Leute kennenlernen. Was da alles schiefgehen konnte. Im Nachhinein weiß ich: für mich ging gar nichts schief. Ich hatte meine Höhen und Tiefen, aber bereue nicht eine Sekunde meiner Zeit in Kanada.

Mein Gastvater holte mich vom Flughafen ab und es war irgendwie alles überwältigend. Ich hatte seit Hamburg nicht geschlafen und war aufgeregt, den Rest meiner Gastfamilie kennenzulernen. Ich würde die nächsten 10 Monate in einem kleinen Ort, ca. zwei Autostunden von Vancouver, verbringen, mit vier Gastgeschwistern, die nebenbei gemerkt alle nicht älter als neun waren, und einem weiteren Austauschschüler aus China. An die Autofahrt erinnere ich mich kaum noch. Am Haus angekommen wurde mir der Rest der Familie vorgestellt und ich wurde herzlich empfangen. Vor diesem typisch nordamerikanischen Holzhaus stand jetzt also meine Gastfamilie und meine Gastmutter versuchte auch alles, dass die Kinder nicht losstürmten. Es war ein super familiäres Bild und ich fühlte mich direkt willkommen. Beim Abendessen wurde ich dann erstmal über mein Leben in Deutschland ausgefragt und ich antwortete, so gut es eben ging, in meinem gebrochenen Schulenglisch, was ich nach nur ein paar Monaten durch feinsten, wie mein Englischlehrer ihn beschreiben würde „grausamen, aber dennoch richtigen“ Slang ersetzte. Um das schon einmal vorwegzunehmen: Meine Gastfamilie war super! Es war immer was los, ich fühlte mich nie einsam und meine Gasteltern haben mir mit allem geholfen und sich super für mich interessiert. Wie es mir geht und wie mein Tag war, war die erste Frage beim Abendessen… Meine Angst, dass wir nicht zusammenpassen könnten, erwies sich als völlig unbegründet. Wir hatten in dem ganzen Jahr nicht eine einzige richtige Meinungsverschiedenheit.

Der erste Schultag war für mich nicht schlimm. Ich hatte das Glück, ins Footballteam aufgenommen worden zu sein und hatte mit einigen der Jungs seit Tagen Kontakt. Sie halfen mir, mich zurechtzufinden. Womit sie mir aber nicht helfen konnten, war die Liste von Schulfächern, aus denen ich vier auswählen sollte. Diese vier würde ich das ganze Halbjahr über jeden Tag haben. Ich war völlig überfordert. Wollte ich Automechanik, Anatomie, Sportverletzungen, Gesetz oder doch lieber Metallarbeit, Kommunikation, Computertechnik oder 3D-Animation? Aus 250 dieser ausgefallenen Fächer sollte ich mich jetzt für vier entscheiden. Natürlich gab es auch „normale Fächer“ wie Mathe, Englisch oder Chemie. Das spiegelte sich in meinen Stundenplänen aber eher selten wieder. Ich entschied mich letztendlich für Spanisch, Social Studies, Lebensplanung und Eishockey im ersten Halbjahr. Da gab es nur ein Problem. Ich hatte in meinem Leben noch nie auf Kufen gestanden, aber darum war ich ja auch hier. Ich war hier, um neue Sachen auszuprobieren. Zwar hatte ich keine Chance auf dem Eis mitzuhalten, aber Spaß hatte ich trotzdem eine Menge. Kanada wird nicht ohne Grund mit Eishockey in Verbindung gebracht und dass ich Inliner fahren konnte half mir hier auch nicht wirklich weiter. Trotzdem war ich gerne auf dem Eis.

Nach der Schule hatte ich Footballtraining. Jeden Tag! Fünf Tage die Woche und wenn dem Trainer danach war, auch an den Wochenenden. Es war unglaublich. Sowohl anstrengend als auch fantastisch. Das Mannschaftsgefühl, die Flutlichtspiele oder auch die Busfahrten zu anderen Schulen werde ich nie vergessen. Ich hatte auch noch nie in meinem Leben Football gespielt und bekam das auch oft zu spüren... Im wahrsten Sinne des Wortes. Alle kümmerten sich um mich, zeigten mir die Techniken und niemand war sauer, wenn ich einen Fehler machte (und ich machte viele) und letztendlich bekam ich sogar Spielzeit. Auch in den Playoffs! Ich habe High School-Football-Playoffs miterlebt und wer kann das schon von sich behaupten? Ich freundete mich mit dem Team an, was mir auch den Schulalltag erleichterte.

Aber auch außerhalb vom Football lernte ich neue Leute kennen. Anfangs war ich noch etwas zurückhaltend. Mein Englisch war nur schwer zu verstehen und ich fühlte mich noch nicht sicher. Die Leute haben mich trotzdem aufgenommen und mich freundschaftlich behandelt. So kam es, dass ich vor allem im Schulfach Lebensplanung, aber auch in Social Studies, erste Kontakte knüpfte. Wirklich gute Freunde fand ich erst später, aber mein Englisch verbesserte sich dadurch sehr schnell.

An meiner Schule war ich natürlich nicht der einzige Austauschschüler. Dadurch waren die Kanadier zum einen natürlich an Austauschschüler gewöhnt und ich war nichts Besonderes, zum anderen bot die Schule so aber auch Ausflüge für uns Austauschschüler an. So hatte ich die Gelegenheit Victoria, die wunderschöne Haupt- und Hafenstadt auf Vancouver Island zu sehen. Außerdem konnte ich dadurch auch mehrmals nach Seattle fahren. Eine ebenso faszinierende Stadt, aber mit einer komplett anderen Atmosphäre. Dort waren wir Austauschschüler „typische Touris“. Wir liefen durch die Stadt und fotografierten oder shoppten. Wir fuhren auf die Space Needle und tranken Kaffee im ersten Starbucks direkt am Wasser. Erinnerungen, die ich gegen nichts wieder weggeben würde.

Mein Highlight in Seattle habe ich allerdings nicht auf einem Schulausflug erlebt.

Es war der erste Sonntag im Dezember und mein Wecker klingelte um fünf Uhr morgens… Aber wach war ich eh gewesen. Heute war der Tag! Mein Gastvater und ich stiegen um pünktlich sechs Uhr morgens in das Auto und fuhren in die USA, nach Seattle. Heute war NFL Sunday und wir hatten Karten. Die Seattle Seahawks spielten gegen die Philadelphia Eagles und wir würden dabei sein! Ich konnte es gar nicht fassen. Die Karten waren zwar sehr teuer, aber es war NFL Football. Nach dem Mittagessen bei einer Fast-Food Kette, die es in Kanada nicht gibt, machten wir uns auf den Weg zum Century Link Field, der Heimstätte der Seahawks. Es war irre! Fast surreal! Das Stadion bebte unter den 125 Dezibel der brüllenden Fans als Chris Pratt die Flagge hisste und die Spieler einliefen. Dann absolute Stille für die amerikanische Flagge und Nationalhymne, gefolgt von einem spannenden, lauthals bejubelten Footballspiel, aus dem die Seahawks mit 24:10 als Sieger hervorgingen. Ich mochte Football, schaute ihn im Fernsehen und spielte ihn in der Schulmannschaft, aber seit diesem Tag liebe ich den Sport. Go Seahawks!

Sport insgesamt ist unglaublich wichtig in Nordamerika und in Kanada ist es vor allem Eishockey. Selbst in den Amateurligen füllten sich die Eishallen. Ich spielte weiterhin begeistert in meinem Schulfach und wurde immer besser. Nicht richtig gut, aber ich legte mich nicht mehr so oft aufs Eis. Man soll ja von den Profis lernen und deshalb habe ich mir auch einige NHL Spiele der Vancouver Canucks im Stadion angesehen. Es war hochklassiges, schnelles, spannendes Eishockey bei jedem Spiel und es war immer ein tolles Erlebnis. In Kanada sollte man sich Eishockeyspiele ansehen. Das gehört einfach dazu und ist eine Erfahrung, die man so schnell nicht wieder vergisst.

Ansonsten gewöhnte ich mich schnell an meinen neuen Alltag. Dinge wie Schule, Sport oder sogar simple Sachen wie Einkaufen, die ich am Anfang noch besonders fand, wurden alltäglich und dieser Alltag gefiel mir. In regelmäßigen Abständen wurden sonst auch Aktivitäten wie Snowboarden oder Paintball angeboten. An beiden Trips habe ich dann auch teilgenommen. Beides hatte ich vorher noch nie ausprobiert und beides hat sich als ein tolles Erlebnis herausgestellt. Beim Snowboarden in Whistler traf mich das Sprichwort „Aller Anfang ist schwer“ wie ein Schneeball ins Gesicht. Ich glaube, ich lag öfter im Schnee und versuchte mich wieder aufzustellen, als dass ich letztendlich auf dem Snowboard stand. Ich war sehr stolz am Ende des Tages, zumindest die Anfängerabfahrt bezwungen zu haben. Beim Paintball wurde ich anfangs öfter getroffen als es gefühlt Kugeln im Spiel gab. Am Ende dieser Tage kam ich mit Schnee im Pullover, schmerzenden Gliedern und kalten Fingern bzw. blauen Flecken von den Farbpatronen wieder zuhause an, aber auch mit zwei unglaublich tollen Tagen, an die man, zumindest beim Paintball in Form von blauen Flecken, stetig wieder erinnert wurde. Und jeder einzelne blaue Fleck war es wert.

Ob ich gar kein Heimweh hatte werde ich oft gefragt. „Nie“ zu sagen wäre gelogen. Ab und zu hatte ich schon ein bisschen Heimweh. Ich lächle dann oft einfach nur und antworte für Heimweh hätte ich gar keine Zeit gehabt. Und das ist keine Lüge. Entweder probierte ich in der Schule neue Sachen aus und stellte fest, dass diese Sachen oft super viel Spaß machen. Mit meiner Gastfamilie fuhr ich sonst aber auch oft an den See oder Wandern oder ich traf mich mit Freunden zum Essen, zum Schwimmen, Basketball spielen, in der Mall oder für Ausflüge nach Vancouver. Einmal waren wir sogar in Whistler. Ich hatte kaum Zeit für Heimweh, weil ich zu beschäftigt war, einfach zu leben.

Aller Anfang ist schwer. Alles ist neu, man kennt keinen, spricht die Sprache nicht und weiß nicht, ob man gut ankommt, ob die Gastfamilie einen herzlich aufnimmt oder ob man Freunde findet. Das alles ergibt sich mit der Zeit von selbst. Wenn man aufhört sich darüber Sorgen zu machen und einfach anfängt zu leben und zu sprechen wird alles einfacher. Freunde findet man dann, wenn man es nicht erwartet oder vielleicht auch, wo man es nicht erwartet. Ich habe z.B. meine besten Freunde kennengelernt, weil ich am selben Tag Geburtstag hatte oder weil ich einen Basketball zurückgegeben habe. Aus jeder kleinen Situation kann sich eine Freundschaft entwickeln.

Ich persönlich denke, dass sich ein gutes Auslandsjahr aus vielen verschiedenen Faktoren zusammensetzt. Einige kann man beeinflussen, andere nicht. Man sollte sich auf Sachen, auf die man Einfluss hat, konzentrieren. Offen sein, auf die Leute zugehen, neugierig auf Kultur, Land und Leute, freundlich und respektvoll sein. Man kann so viel machen und vor allem muss man selbstständig wichtige Entscheidungen treffen.

Allein man selbst entscheidet sich für die Freunde, die den Aufenthalt so viel besser machen und mit denen man auch dann noch in Kontakt bleibt, wenn das Flugzeug wieder in Deutschland landet. Man selber entscheidet, ob man diese neuen Möglichkeiten wahrnimmt, die sich einem bieten und man selber entscheidet, ob man neue Dinge ausprobiert. Man selber entscheidet sich dafür, ob das Auslandsjahr eine Zeit für persönliche Entwicklung ist.

Meins war genau das. Ich habe neue Hobbies, neue Freunde, eine neue Art, die Welt zu sehen, neue Gewohnheiten, neues Wissen über Land, Kultur und Leute und vor allem über mich selbst gewinnen können. Ich habe eine andere Richtung für meine Zukunft gewählt, die ich bis vor diesem Jahr niemals in Betracht gezogen hätte.

Johannes

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