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Elli, ein Jahr weltwärts-Freiwilligendienst im ecuadorianischen Regenwald (Selva Vida)

Beginnen möchte ich diesen „Abschlussbericht“ damit zu sagen, dass es mir schwerfällt, das ganze Jahr auf zwei Seiten abschließend zusammenzufassen. Denn aus meiner Sicht geht die Phase des Abschließens und Reflektierens nun erst los. Ich bin zwar physisch schon wieder in Deutschland, der Rest von mir bewegt sich jedoch an einem nicht definierbaren Ort irgendwo zwischen Ecuador und Deutschland. Außerdem denke ich nicht, dass man ein solch prägendes Jahr irgendwann komplett abschließen kann, für mich ist es etwas, was mich mein ganzes Leben lang begleiten wird.

Mit dem Vorbereitungsseminar fing ich an zu realisieren, dass es für mich bald wirklich für ein Jahr nach Ecuador geht. Die heitere Stimmung und der Inhalt des Seminars bewirkten, dass meine Vorfreude und der Drang, jetzt auch loszulegen, stetig wuchsen. In Quito anzukommen kann ich im Nachhinein nur als „bunt“ beschreiben. Das trifft auf das Äußerliche der Stadt zu, passt aber auch mit der euphorischen und heiteren Stimmung zusammen, die ich in unserer Gruppe aus sieben Freiwilligen unserer Organisation KulturLife wahrnahm. Insgesamt war diese Gruppe für die ersten Tage – aber auch weit darüber hinaus – sehr wichtig für mich, denn alle Gefühle und Eindrücke konnte ich jederzeit mit den anderen Freiwilligen teilen, wir saßen ja alle „im gleichen Boot“.

Der Urlaubsmodus verflog erst, als wir den Bus nach Macas nahmen und unseren eigentlichen Einsatzort kennenlernten. Auch noch am Ende des Jahres ging es mir so, dass ich mich in dem Land Ecuador als Touristin fühlte. In der „Costa“ und vor allem „Sierra“ (die Küsten- und Andenregion Ecuadors) hielt ich mich in den Ferien oder am Wochenende manchmal auf, um unterschiedliche Teile des Landes kennenzulernen. Dort traf ich auch öfters andere Freiwillige, mit denen ich die Zeit in Selva Vida reflektieren und aus einer anderen Perspektive betrachten konnte. Mein zweites Zuhause und der Teil, wo ich mich nicht als Außenstehende fühlte, wurde jedoch schon fast von Anfang an „elOriente“ (die Regenwaldregion), genauer gesagt das Gebiet der Shuar im Kanton Taisha, Region Macuma. Dort wohnte ich etwa dreißig Minuten weg von der nächsten kleinen Gemeinde, Yucaip, bei der Familie von Cesar Tucupi mit seiner Frau Lucy und dem (damals noch) dreijährigen Sohn Tuntiak. Cesar hat in seinem Projekt „Selva Vida“ außerdem neben den zwei deutschen Freiwilligen (Gaia und ich) auch manchmal Kurzzeitfreiwillige von bis zu sechs Wochen zu Besuch. Vom ersten Tag an fühlte ich mich in der idyllischen und ruhigen Umgebung zu Hause und genoss sehr das einfache Leben ohne Strom und Wasserhahn und mit einer nur sehr sporadischen Infrastruktur, dafür aber mit zwei Flüssen und der ganzen Bandbreite an Möglichkeiten, den Urwald für sich zu nutzen. Das Leben dort kann man aus der Perspektive der meisten Europäer wohl als rustikal oder einfach beschreiben, denn viele Dinge, die einem in Europa vermeintlich das Leben einfacher machen, gab es in meiner Zeit dort nicht. In meinem ganzen Jahr dort hatte ich jedoch nie wirklich das Gefühl, dass es den Menschen dort an Materiellem zu fehlen scheint. Ganz im Gegenteil hatte ich in den ersten Monaten meist das Gefühl, in einer perfekten Welt ohne Probleme und Sorgen angekommen zu sein.

Auch in der Schule fühlte ich mich von Anfang an sehr wohl. Dies lag vor allem an den sehr herzlichen und offenen Kollegen, die viel Interesse daran zeigten, mir die Shuarkultur und -sprache näherzubringen und etwas über mich, Europa oder die englische Sprache zu lernen. Ich habe während meines einjährigen Freiwilligendienstes die beiden Englischlehrer des „UECIBAS“ („UnidadEducativaCommunitarioInterculturalBilingue Antonio Sanmaniego“) in Macuma bei der Planung und Durchführung des Unterrichts der Klassen 8 bis 13 (terceroBachillerato) unterstützt. Ich sang oft englische Lieder, ging spielerisch Vokabeln und deren Aussprache durch, übte mit den Schülern kleine Dialoge ein oder leitete mit dem Lehrer kleinere Aufgaben an. Diese kleineren Einheiten ergänzten meist eine Grammatikeinheit des Lehrers. Insgesamt würde ich die Zusammenarbeit als gut funktionierend und zielführend beschreiben, auch wenn in der Praxis Dinge manchmal nicht so rund liefen. Ich hatte zum Beispiel manchmal das Gefühl, dass Unterrichtsplanung hier als zweitrangig angesehen wird und deshalb oft vergessen wurde. Insgesamt kam mir die Schule oft chaotisch und unorganisiert vor, dafür aber mit vielen stets bemühten und mir gegenüber sehr netten Schülerinnen und Schülern. Besonders schöne Momente an der Schule waren es, wenn Schüler oder Schülerinnen nach den Klassen noch zu mir kamen, meinen Unterricht lobten und Interesse daran zeigten, noch mehr Englisch oder sogar etwas Deutsch zu lernen. Besonders schön war es immer, wenn ich merkte, dass die Schüler gerade mit besonders viel Freude oder Motivation dabei waren. Dies spiegelte sich dann meist am Ende der Stunde in einem besonders kräftigen Applaus wider, der mich jedes Mal aufs Neue stolz machte. Das Highlight der Woche war jedoch meist die Klasse am Mittwochnachmittag mit interessierten Lehrern der Schule. In Ecuador ist es üblich, dass die Grundschullehrer und Lehrerinnen ihre Schüler und Schülerinnen in allen Fächern unterrichten, also auch Englisch, was in Macuma aufgrund nicht vorhandener Englischkenntnisse eigentlich nicht möglich ist. Also fing ich an, mich ein Mal in der Woche mit einigen Lehrern hinzusetzen und grundlegende Vokabeln, deren Aussprache, thematische Lieder oder passende Spiele für Grundschüler/-innen durchzugehen, mit dem Ziel, dass sie dies dann an die Kinder weitergeben können.

Außerhalb der Schule gab es auch in Selva Vida immer viel zu tun. Bei vielen Dingen ist es schwierig zu unterscheiden, ob dies nun zu meiner Arbeit als Freiwillige gehört oder doch eher ganz normale alltägliche Aufgaben sind. So hackte und holte ich beispielsweise oft Feuerholz und kümmerte mich um die Hühner, machte aber auch Arbeiten wie neue Häuser bauen bzw. reparieren, den Weg ausbessern, beim Anpflanzen von Nutzpflanzen unterstützen, seltene Bäume pflanzen oder bei „mingas“ (gemeinschaftlicher Arbeit) in der Gemeinde helfen. Mir fielen in dieser Zeit unter anderem zwei Dinge auf, die ich sehr bewundere. Das erste war, wie selbstverständlich in der Shuarkultur geholfen und geteilt wird. Ein Beispiel sind natürlich die „mingas“, bei denen gemeinsam für eine Familie oder die ganze Gemeinde gepflanzt, geerntet, abgeholzt oder aufgeräumt wird und nach der Arbeit dann oft zusammen gegessen und gefeiert wurde. Auch Feiern in der Gemeinde waren für alle offen, und jeder, egal welchen Alters oder woher, war willkommen. Wenn jemand im Lehrerzimmer beispielsweise eine Frucht oder ein Brötchen hatte, wurde dies in so viele Teile geteilt, wie Menschen anwesend waren. Das zweite war, wie schnell und geschickt Dinge gebaut oder repariert wurden, und dass in der Regel mit nur sehr wenig Material. Insgesamt wird der Urwald von den Shuar mit einer solchen Kreativität, Geschick und auch Wissen genutzt, dass ich oft aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam. Auch ich war sehr stolz auf mich, als ich mit der Zeit lernte, aus nichts außer einer Machete und einigen großen Blättern, die um mein Haus wuchsen, mein Dach auszubessern, damit es nicht reinregnet. Dies wird schon in der Schule sehr gefördert. So lernen die Schüler beispielsweise im Schulgarten, wie man den Garten pflegt, einen Fischteich anbaut, sich um Kühe kümmert, aber auch, wie man traditionellen Shuarschmuck oder Körbe herstellt und sogar etwas über die traditionelle Heilkunde, die dort von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Diese sorglosen ersten drei Monate vergingen nach einer Weile. Zwar wuchsen Zuneigung und das Gefühl, zu Hause zu sein, das ganze Jahr über kontinuierlich, doch nach einiger Zeit wurde ich, vor allem durch längeren Kontakt zu meinen Mitmenschen, doch auch auf Dinge aufmerksam, die in der Welt der Shuar aus meiner Sicht nicht so gut laufen. Zum Beispiel bekam ich von vielen Frauen und auch aus eigener Erfahrung mit, wie dominant Männer über die Familie bestimmen. Von vielen Kindern wusste ich außerdem, dass die Erziehung traditionell Frauensache ist. Die Männer dominieren meiner Erfahrung nach auch ganz klar Gespräche und wichtige Diskussionen. Außerdem sind Bildungschancen in der Region sehr schlecht, fast kein/-e Schüler/-in eines Abschlussjahrgangs lernt danach noch weiter oder geht sogar auf die Universität. Im Nachhinein weiß ich, dass ich in dieser Zeit erst anfing, im Dschungel anzukommen und die Kultur und Menschen dort wirklich kennenzulernen und zu verstehen.

Gegen Ende entwickelte sich aus der Phase des Verstehens und des Aufmerksamwerdens auf aus meiner Sicht problematische Dinge dann eine Phase, in der ich merkte, dass ich die Zustände nicht einfach hinnehmen konnte. Das passierte immer öfter in den letzten Monaten. Vor allem fing ich an, Vergleiche zu Deutschland zu ziehen. Ich wusste zu jedem Zeitpunkt meines Freiwilligendienstes genau, dass ich nicht das Recht hatte, über Dinge dort zu urteilen oder den Shuar zu diktieren, wie sie es „richtig“ zu tun haben. Um solche Widersprüche zu begreifen, zusammenzufassen und zu reflektieren, aber auch um sie zu akzeptieren, half es mir immer sehr, mit den anderen Freiwilligen zu sprechen, die zum Teil sehr ähnliche Erfahrungen und Beobachtungen machten. So fiel mir beispielsweise auf, dass das Einzige, was ich tun konnte (und tatsächlich auch tat) war, meinen Mitmenschen ein Stück andere Kultur und Gewohnheiten vorzuleben, wie auch die Shuar mir andere Gewohnheiten und Lebenseinstellungen vorlebten. Ein Beispiel dafür ist Cesar, der in der Vergangenheit schon sehr viele internationale Kontakte als Touristenführer hatte. Seinem Verständnis nach ist nicht nur seine Frau Lucy für die Erziehung seines Sohns Tuntiak verantwortlich, sondern er genauso. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich die Shuarkultur für schützenswert halte und ich nie versucht habe, sie zu ändern. Doch wenn die Menschen dort beispielsweise durch einen Freiwilligendienst mit anderen Kulturen in Kontakt kommen, leben wir ihnen zwangsläufig auch Alternativen zu ihrer Lebensweise vor.

Viele kulturell bedingte Dinge nehme ich nun, seit ich wieder in Deutschland bin, sehr viel stärker wahr. Das Jahr in Ecuador hat mich dazu gebracht, Werte und Gewohnheiten, die ich schon mein ganzes Leben lang habe, zu reflektieren, zu hinterfragen und zu verteidigen.

Für die Zukunft möchte ich mir dieses kritische Denken gerne beibehalten und die Welt, so wie ich sie um mich herum erlebe, nicht wie in Stein gemeißelt, sondern eher als etwas Formbares wahrnehmen. Ich habe viel über die Kultur der Shuar, das Leben im Urwald, das „Lehrerinsein“ und vor allem über mich selbst gelernt und wurde oft von einer ganzen Bandbreite an Emotionen, von Ausgelassenheit und Frohsinn über Trauer bis hin zu Frustration, überrollt. Wenn ich an das Jahr zurückdenke, sind die Highlights eher kleine Dinge, die ich dort mit den Menschen dort erlebte. Etwa eine besonders spaßige Stunde mit den Schülern, mit Cesar Bambus über den Fluss transportieren, nach dem Zwischenseminar wieder „nach Hause“ zu kommen, mit Lucy Hühner fangen, mit den Frauen in Yucaip kochen und scherzen oder mit Tuntiak lachend im Fluss baden. Insgesamt hatte ich ein unglaublich schönes und unvergessliches Jahrim ecuadorianischen Regenwald und bin sehr dankbar für diese Erfahrungen, die mich sehr geprägt haben.

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