MENÜ

Gisela, 3 Monate im Sozialprojekt für Kinder

„Tannie, give us bread!“

„Tannie, give us bread!“ (Tante, gib‘ uns Brot) - So höre ich die Kinder rufen, die mich plötzlich umringen, während ich mittags mein Brot auf einer Bank esse. Und noch mehr Kinder stürmen herbei. Ich bin hilflos und weiß nicht, wie ich aus dieser Situation herauskommen kann. Das Brot reicht nicht für alle. Beschämt blicke ich zu Boden. Zum Glück kommt die Dame Cleon von der Rezeption mir zu Hilfe. Sie erklärt den Kindern, dass sie ja selbst gerade gegessen haben, und nun diese freiwillige Helferin es auch tue. „Seht, sie hat auch nicht mehr als ihr“, höre ich sie noch sagen. Und ich bekomme noch den Hinweis, dass alle Angestellten und Freiwilligen nur im Haus essen sollten.

Als „Freiwillige 50 Plus“ habe ich mir diesen Platz ausgesucht, um mich anderswo einzubringen, Land und Leute kennenzulernen. Mit anderen Freiwilligen, die alle sehr jung sind, wohne ich in einem Haus in einer Villengegend, nicht weit vom Strand entfernt. Die Fahrtzeit ins Township ist über eine halbe Stunde jeden Tag hin und zurück. Am Wochenende haben wir frei.

Mit Begeisterung nehme ich Kontakt zu allen Menschen auf, denen ich begegne. Von 1950 - 1991 – in der Zeit der Apartheid – wird der Xhosa-Stamm an den sandigen Berghang zurückgedrängt, während sich die Europäer an der Küste und im Grünen niederlassen. Vorbei die Zeit der Jagd und der Fischerei, die ihren Lebensunterhalt sicherte. Erst durch Nelson Mandela, der zur Versöhnung zwischen Schwarz und Weiß aufruft, hat 1996 das Leid ein Ende. Noch immer leben 130.000 Menschen außerhalb der 1,1 Millionen Autoindustrie- und Hafenstadt. Illegale sind zugewandert. Viele können sich eine Geburtenregistrierung nicht leisten. So entfallen auch die Hilfen vom Staat, so es sie überhaupt gibt. Niemand weiß etwas Genaues darüber.

Hier versucht nun das katholische Missionszentrum (gegründet 1988 von einer irischen Missionsschwester) die Not zu lindern. Die Welt ist zu Gast bei Schwester Ethel, wie es die Bildergalerie in ihrem Büro zeigt. Da sind als Erstes Mutter Theresa, Nelson Mandela und Queen Elizabeth zu nennen. Außerdem hat Schwester Ethel schon viele Auszeichnungen erhalten und trägt sogar den Titel eines „Honorary Doctor“ der Universität von Port Elizabeth. Leider habe ich sie nicht kennengelernt. Sie ist schon über achtzig Jahre alt, und viel auf Reisen, um Spenden zu sammeln.

Dieses Missionszentrum hat ein ausgezeichnetes Management mit einer familiären Atmosphäre: „Liebe geben und das Miteinander pflegen“ ist das Motto. Die Angestellten kommen alle aus diesem Viertel, sind hier bereits geboren, z. T. haben sie die Missionsschule besucht und werden an eine Ausbildung herangeführt.

Jeder freiwillige Helfer wird begrüßt, im Areal herumgeführt und zu seinem ersten Arbeitsplatz gebracht. Der Kontakt bleibt während unseres ganzen Aufenthalts mit dem Büro intensiv. Die Verbindung zu allen Häusern ist durch eine Video-Überwachung gesichert. Am Ende unseres Aufenthalts gibt es noch eine Tee-Stunde mit einem ausführlichen Gespräch und ein kleines Dankeschön zur Erinnerung.

Und was gibt es alles zu tun?

Meine erste Arbeitsstelle ist die Lebensmittel-Ausgabe. Hier werden immer Helfer gebraucht. Täglich werden den Menschen (500-1000) eine Tasse Maismehl (um eine Suppe mittags zu kochen) und – wenn vorhanden – Reste vom Supermarkt ausgegeben. Registrierten Personen steht auch wöchentlich ein Beutel mit Lebensmitteln zu. Die Menschen kommen schon recht früh, hungrig, haben schon einige Kilometer zurückgelegt. Sie warten geduldig auf den Bänken, sind farbenfroh gekleidet. An bestimmten Tagen kommt auch der Priester, um mit ihnen zu singen, zu beten und auch um Informationen weiterzugeben. Mich beeindrucken tief ihre Würde, ihr Stolz und ihre Warmherzigkeit. Wir Freiwilligen werden angehalten, zuerst zu grüßen. Tief berührt bin ich jedes Mal von ihrer Reaktion, mit welcher Herzlichkeit, mit einem Lächeln oder Winken, sie unseren Gruß erwidern.

Hier – rund um die Lebensmittelausgabe – schlägt das Herz von Missionvale. Die beiden Chefinnen Rahel und Jossita arbeiten mit viel Herz und schneller Hand, um diesem Ansturm gerecht zu werden. Außerdem kennt man sich ja schon seit Jahrzehnten. Immer wieder muss die Warteschlange geordnet werden. Gerade nach dem Wochenende ist der Hunger groß, die Aggressionen fordern die Helferinnen sehr heraus. Wiederum gleichen das auch andere durch Humor wieder aus.

Im hinteren Teil des Raumes werden die Freiwilligen besonders gern eingesetzt. Hier müssen täglich bis zu 500 Lebensmittelbeutel gefüllt werden mit: 500 g Mehl, 500 g Zucker, 1 Dose Bohnen, 1 Dose Fisch in Tomatensauce, 2 Seifen (Körper und Wäsche) und 5 Teebeuteln. Das Stehen kann sehr anstrengend sein; wenn kein Stuhl frei ist, kann man sich einen Karton nehmen. Doch mit Singen, Lachen, Tanzen geht ein Arbeitstag schnell vorbei. Hartarbeitende Frauen, viel Durchgangsverkehr, Anlieferer von Waren und anderen Angestellten. Hier pulsiert das Leben.

Und was mich zwei Monate hier begleiten wird: Ich werde Oma, Grandma oder Granny gerufen. Mit Respekt, sagen mir die Frauen, denn wer weißes Haar hat, ist alt und dem gehört Respekt.

Gerne gehe ich zum Arbeiten in die Schulküche, die direkt der Schule gegenüberliegt. Dazwischen ist der Schulhof für die 5-12-Jährigen. Die fortführende Schule ist nicht weit vom Zentrum. Die hungrigen Kinder bekommen vor Schulbeginn ihre Schüssel Maisbrei. Nach der großen Pause wird mit der Lehrerin gebetet. Danach holen die Kinder den Saft und Brote in Plastikkörben ab. Täglich müssen ca. 400 Brote geschmiert, wahlweise mit Käse, Wurst, Marmelade oder Fisch, dann zusammengeklappt und in Kartons geschichtet werden. Gerne würden die Kinder mehr Süßes essen, wie z. B. eine Banane, doch die ist zu teuer. Die Chefin der Küche ist jung und heißt Fredilene. Sie hat eine wunderschöne Stimme, singt viele Kirchenlieder während der Arbeit. Sie ist interessiert an Fremdsprachen. Für die deutsche Sprache lege ich ein Vokabelheft mit Wörtern wie „Guten Tag“, „Danke“, „Bitte“ usw. an. Bei Regen kommen viele Kinder nicht, weil sie sonst im Schlamm versinken würden. Geeignetes Schuhwerk ist nicht vorhanden.

Das Päckchenpacken im Weihnachtsmann-Haus ist ein besonderer Spaß für mich. Hier regiert die mütterliche Hettie über zwei Riesenräume. Der erste besteht aus vielen gleichen Kartons mit der Aufschrift z. B. „Baby Junge/Mädchen 5-6/Teenage Junge“ usw.  Alles Secondhand-Spielzeug, das hier im Laufe der Jahre aus der Stadt landet. Hier wird alles gesichtet und in einzelnen Kartons einsortiert.

Im zweiten Raum werden 6000 Geschenke fertiggestellt. Jedes einzelne wird in gebrauchtem Geschenkpapier verpackt – mit der jeweiligen Aufschrift – und in große Kartons verstaut. Am Heiligen Abend stehen drei Weihnachtsmänner bereit: Einer für die Jungen, einer für die Mädchen und einer für die Babys. Das ist die allergrößte Herausforderung eines jeden Jahres, um diesen Ansturm zu meistern. Kreativität ist hier gefragt, beim Einpacken. Ich denke an meine Eltern zurück, wie sie während und nach dem Krieg es geschafft haben, uns Kindern immer eine Freude zu bereiten.

Hettie’s ältester Sohn stirbt in dieser Zeit. Ich mache einen Kondolenzbesuch in ihrer Blechhütte, die sich von anderen nicht unterscheidet. Mitten aus dem Leben gerissen…

Im Warenhaus habe ich mich gelangweilt. Dort muss die eingetroffene Secondhand-Kleidung sortiert werden: a) in die Regale b) Nähstube c) Lumpen. Ich habe auch keinen Kundenverkehr – und die Damen als sehr zurückhaltend erlebt. Auch festliche Kleidung kann ausgeliehen werden. Und, was noch viel wichtiger ist, eine Erstausstattung nach einem Hüttenbrand wie Bettzeug, Kochgerät, Töpfe, Decken, Kleidung u.v.m.

Auch in der Ambulanz, die hier Klinik heißt, habe ich zwei Wochen mit einem deutschen Arzt zusammen gearbeitet. Als er nach Kapstadt ging, hörte ich ebenfalls auf, ich war einfach zu sehr auf deutsche Informationen angewiesen. Die drei Sprachen schwirren einem jeden Tag um den Kopf herum: Xhosa, Afrikaans, Englisch. Viel Betrieb, viele Informationen auch veranschaulicht an den Wänden für die Patienten. Ich bin aber stolz darauf, beim Ohrenspülen assistiert zu haben und bei kleinen, sterilen Eingriffen dabei gewesen zu sein. Dazu Verbandswechsel und Spritzen geben. Interessant war, dass der junge Arzt auch meine Diagnose gerade bei älteren Menschen miteinbezog. Auch hier liegt Brot bereit für Patienten, damit sie vor der Medikamenten-Einnahme etwas im Magen haben.

Und nun kommt eine Arbeitsstelle, mit der ich am meisten geliebäugelt habe: Es ist das Gesundheitszentrum von Missionvale mit seinen jungen Helferinnen und Schwestern, die täglich 3 - 5 Stunden (immer zu zweit) unterwegs im Armenviertel sind und genügend Kilometer zu Fuß zurücklegen. Immer schleppen sie einen schweren Rucksack mit sich. Er ist gefüllt mit Medikamenten, Lebensmitteln, und sogar Paraffin zum Kochen für die, die nicht mehr einkaufen können oder gar kein Geld haben.

Immer werden wir eingeladen, Platz zu nehmen. Mein Alter ist interessant, wo ich herkomme, was ich mache. Immer unterhaltsam, auch hier in englischer Sprache.

Hier sieht die Arbeit des Gesundheitszentrums ganz anders aus als bei uns in der Hauspflege. Die meisten Patienten werden von den Angehörigen gepflegt. Es wird Blutdruck und Blutzucker gemessen, die Patienten an Medikamenten-Einnahme und Kliniktermine erinnert, wenn nötig ermahnt, auch mal Druck ausgeübt. Alles wird protokolliert. Der HIV/AIDS-Anteil und TBC ist sehr hoch. Alles wird überwacht. Manche Senioren haben einen Rollstuhl, mit dem sie nicht auf Sand- und Schotterwegen fahren können. Also muss ein Auto her und derjenige zur Klinik begleitet werden.

Zwei Mal durfte ich nicht mitgehen: Wir müssen Gefühle berücksichtigen! Wenn eine Weiße mitkommt, denkt der Patient, dass es sehr schlecht um ihn steht. Und in dem anderen Fall: Das ist eine besonders gefährliche Gegend mit Gewalt. Weiße sind nicht willkommen. Und dann musste ich auch noch erleben, wie ein kleines Kind laut zu weinen anfängt, als ich das Haus betrete: Weißes Haar, weiße Haut – eine „Mlungu!“. Ich muss wie ein Geist auf dieses kleine Wesen gewirkt haben und bin sofort aus der Hütte hinaus.

Langsam beginnt die Stadt, Steinhäuser im Township zu bauen. Ich sehe, wie sie von den Bewohnern gestrichen und eingerichtet werden. Es ist wie ein Aufatmen. Doch nur die an den Straßen haben Glück. So gibt es auch hier Revierkämpfe. Strom hat jede Hütte. Durch das Blechdach regnet es immer herein. Betten, Sitzgelegenheiten, Wäsche – Pappe und Zeitungspapier an den Wänden – müssen wieder getrocknet werden. Dazu der ständige Wind, der viel Staub aufwirbelt. Wasserstellen gibt es außerhalb.

Das Leben kann sehr grausam sein im Armenviertel. Davon zeugt der Riesenfriedhof, auf dem viele junge Leute begraben sind. Die mittlere Generation fehlt. Die Großeltern, bzw. nur die Großmutter, ziehen zu 63% die Enkel auf.

Es gibt auch viele Situationen zum Schmunzeln, und diese ist besonders beeindruckend: Mit den Helferinnen trete ich in eine Hütte ein, in der es besonders still ist. Wir finden vor: Ein sehr junges Paar im Bett mit Baby, eine Großmutter mit ihrem Kind im Bett, und die Patientin, die Urgroßmutter, nicht da, unterwegs. Leise streicht eine Katze umher. Alles ist in größter Harmonie! Und warum wir nicht aus dem Bett aufstehen? Es ist doch so schön im Bett um die Mittagszeit!

Die jungen Frauen vom Gesundheitszentrum nenne ich „Die Engel von Missionvale“. Und sie bekräftigen das auch mit den Worten: „Wir sind überall, wo Hilfe gebraucht wird!“. Sei es

  • einen LKW zu entladen, der gerade Mehl anliefert
  • chinesische Schuhe aus Containern zu entladen
  • die tägliche Menschenschlangen vor der Lebensmittelausgabe zu ordnen, 
  • Kinder in Reih und Glied für die Schuhausgabe aufzustellen,
  • Schulkinder zu dirigieren, damit alle ein trockenes Brot auf den Heimweg bekommen
  • und noch vieles mehr.

----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Ich betrachte diese Reise auch als einen Ringschluss, d. h. dass sich einiges im Alter wiederholen kann, ob gewollt oder nicht. Da ich in meiner Jugend soziale Einsätze gemacht habe, war das nichts Neues. Nur mein Alter (72) war mir etwas im Wege. Doch ich bekam viel Rückenwind von meiner deutschen Organisation. Gewagt, gewonnen!

… Unser tägliches Brot gib uns heute …

Das Vaterunser bete ich jetzt viel inbrünstiger.

Gisela

Zurück